Re: Cyril Scott "The extatic shepherd"
von Christina » 03.12.2010, 07:35
Hallo King of Flute!
Ich kenne dieses Stück nicht, kann dir aber natürlich einige allgemeine Übetipps geben, wie man sinnvoll an ein Stück mit der von dir beschriebenen Problematik herangehen kann. Eigentlich ist das ja bei allen Stücken, die zu schwer sind, um sie direkt vom Blatt zu spielen, sehr ähnlich. Allerdings verstehe ich nicht ganz, dass dein Lehrer dich mit so einem Stück alleine lässt und nicht im Unterricht sinnvolle Übungsstrategien mit dir besprochen hat. Also:
1. Teil dir das Stück in kurze Übeabschnitte ein. So ein Stück lernt man nicht, indem man immer wieder versucht, es komplett zu spielen. Gerade wenn es so schwierig ist, solltest du dir immer nur sehr kurze Teile, vielleicht einen oder zwei Takte gleichzeitig, vornehmen. Der kürzeste Abschnitt, den man gesondert üben kann, ist der Wechsel zwischen zwei Noten - und auch das kann, je nach Zusammenhang, manchmal sinnvoll sein.
2. Mache dir zunächst die Tonfolge klar. Überlege dir, wie die Töne mit Vorzeichen zu greifen sind, schau, wo ein Vorzeichen innerhalb des Taktes für mehrere Töne gilt, trage dir solche "fehlenden" Vorzeichen evtl. zur Erinnerung mit Bleistift ein. Schau, ob an blöd zu greifenden Stellen die Verwendung von Hilfsgriffen in Frage kommt, wenn ja, dann trag das ebenfalls ein. Vielleicht übst du auch erstmal nur die Griffabfolge ohne Rhythmus (alles als Viertel oder Achtel), wenn es sehr schwierig ist.
3. Mache dir den Rhythmus vertraut. Du musst genau wissen, wie du zählen sollst, welche Noten jeweils zu einem Taktschlag gehören. Auch da ist es hilfreich, sich mit Bleistift zumindest die vollen Zählzeiten zu markieren. Wenn charakteristische Rhythmusmuster vorkommen (bei dir die Quintolen etc.) üb die auch getrennt von dem Stück, z.B. im Rahmen einer Einspielübung auf einer Tonleiter. Wirf dein Metronom an, in sehr langsamem Tempo, und sprich, sing oder klatsch dazu den Rhythmus. Wenn das klappt, spiel ihn mit der Flöte auf nur einem Ton. Danach mit den richtigen Noten und nur gaaaanz langsam das Tempo steigern. Für viele Rhythmusmuster gibt es auch irgendwelche Eselsbrücken (Beispiel: eine Quintole muss klingen wie Lo-ko-mo-ti-ve).
4. Übe schwierige Stellen in verschiedenen Variationen. Wenn es dir um Rhythmus und Griffe geht, kannst du z.B. die Artikulation verändern (alles stoßen, alles binden, abwechselnd bestimmte Gruppen binden und anstoßen, Akzente auf bestimmte Zählzeiten setzen, ...) um so die Aufmerksamkeit für eine Stelle wach zu halten und sie schneller zu lernen.
5. Wähle das Übungstempo nur so schnell, dass alles das, was dir schwer fällt, zu 100% fehlerfrei klappen kann. Jeder Fehler der vorkommt wird vom Gehirn gespeichert und zu wenig Aufmerksamkeit an solchen Stellen führt leicht dazu, dass er sich festsetzt. Steigere das Tempo nach und nach, sehr langsam. Nie schneller spielen, als man denken kann.
6. Verabschiede dich von der Idee, alles gleichzeitig beachten zu wollen. "Feinheiten" wie zum Beispiel die Dynamik kommen erst ganz zum Schluß dran, wenn Rhythmus und Melodie sicher sitzen. Sobald das Tempo einigermaßen realistisch ist, sollte man sich auch Gedanken über sinnvolle Phrasierung und Atmung machen. Vorher hat das keinen Sinn, weil es im langsamen Tempo meistens nicht so durchführbar ist.
7. In vielen Stücken werden Abschnitte mehrfach an unterschiedlichen Stellen gleich oder sehr ähnlich wiederholt. Wenn man solche Muster erkennt und markiert kann man sich viel Arbeit sparen, weil man sie nämlich nur einmal üben muss.
8. Vielleicht der wichtigste Punkt: Nimm dir Zeit und hab Geduld mit dir selber! Niemand wird erwarten, dass du ein Stück von diesem Schwierigkeitsgrad in wenigen Tagen perfekt spielen kannst. Es ist normal, dass man auch mal mehrere Wochen oder noch länger an einem Stück arbeitet. Ich glaube auch nicht, dass dein Lehrer in der nächsten Stunde einen fehlerfreien Vortrag von dir erwartet. Er wird eher sehen wollen, ob du verstanden hast, um was es geht und wie du an so ein Stück herangehst.
Viel Spaß beim Üben!
Christina